Die Vereinigten Staaten sind ein warnendes Beispiel dafür, wie eine führende Wissenschaftsnation mit plötzlichen Umbrüchen konfrontiert werden kann. Die Schweiz hat die Chance, ihre eigene Führungsrolle in der Wissenschaft durch ehrgeizige Investitionen und eine vertiefte internationale Zusammenarbeit entscheidend zu stärken. Diese Chance müssen wir nutzen.
Siehe zugehörige Kommentare
- Korrespondenz in Nature von Christophe Dessimoz und zwei Nobelpreisträgern (Englisch)
- Artikel in Le Temps (Französisch)
- Leitartikel in Le Temps (Französisch)
- Zusammenfassung in SwissInfo (Englisch)
- Zusammenfassung in SwissInfo (Deutsch)
- ELIXIR-Positionspapier (Englisch)
Meinungsbeitrag von Christophe Dessimoz, Geschäftsführer der SIB
Siehe zugehörige Kommentare
- Korrespondenz in Nature von Christophe Dessimoz und zwei Nobelpreisträgern (Englisch)
- Artikel in Le Temps (Französisch)
- Leitartikel in Le Temps (Französisch)
- Zusammenfassung in SwissInfo (Englisch)
- Zusammenfassung in SwissInfo (Deutsch)
- ELIXIR-Positionspapier (Englisch)
Die Umwälzungen, die derzeit das Forschungsumfeld in den USA erschüttern, mit abrupten Mittelkürzungen, Entlassungen und der Auflösung wichtiger Behörden, sind zutiefst beunruhigend. Die Situation in der Schweiz ist zwar bei weitem nicht so gravierend, aber wir stehen vor zwei großen Gefahren, die der nationalen Wissenschaft schaden könnten: drastische Kürzungen im Bildungs-, Forschungs- und Innovationsbereich und der mögliche Zusammenbruch der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Europa, sollten die Stimmberechtigten das Bilaterale Abkommen III ablehnen. Jetzt ist es an der Zeit zu handeln und unsere Führungsrolle zu festigen, insbesondere in den Bereichen Dateninfrastruktur und Fachwissen, die Innovation, Wirtschaftskraft, Souveränität und Wohlstand vorantreiben.
Die Datenkompetenz und Infrastruktur der Schweiz sind strategische Ressourcen
Der Innovations- und Wettbewerbserfolg der Schweiz beruht auf ihrer Fähigkeit, wissenschaftliche Daten in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen umzuwandeln. Ein entscheidender Teil dieses Prozesses wird dabei oft übersehen: das Fachwissen und die Infrastruktur, die Rohdaten in vertrauenswürdiges, zugängliches Wissen verwandeln und die Gewinnung nützlicher Erkenntnisse ermöglichen.
Die SIB stellt diese strategischen Ressourcen für die Lebenswissenschaften als Referenzorganisation für biologische und biomedizinische Daten in der Schweiz zur Verfügung. Zwei Beispiele verdeutlichen diesen wichtigen Beitrag zum Wohlstand und zur Wettbewerbsfähigkeit des Landes.
Das erste Beispiel ist die vorbildliche Echtzeit-Entscheidungsfindung der Schweiz während der COVID-19-Pandemie, die sich auf standardisierte Daten der SIB und anderer offener Datenbanken sowie auf Expertenanalysen zur Ausbreitung und Entwicklung des Virus mithilfe von Softwaretools stützte, die von SIB-Wissenschaftlern entwickelt wurden. Dazu gehörten Expertenwissen über Coronaviren aus UniProt und ViralZone, Vorhersagen zur Proteinstruktur aus SWISS-MODEL, die in die Impfstoffentwicklung einflossen, die Datenerfassung und -analyse durch die Schweizer Plattform zur Überwachung von Krankheitserregern sowie die Echtzeit-Verfolgung von Varianten durch Nextstrain. Hinter diesen Fähigkeiten stehen jahrelange Investitionen in kuratierte Daten und Infrastruktur – während der Krise weitgehend unsichtbar, aber für deren Bewältigung unverzichtbar.
Das zweite Beispiel ist die Innovation in der Schweizer Life-Science-Industrie. Über 5800 Patente, die von Schweizer Unternehmen angemeldet wurden, erwähnen UniProt – die weltweit führende Quelle für Proteindaten und -wissen, die seit 1998 von der SIB mitentwickelt wird. Noch bemerkenswerter ist, dass Roche, eine ihrer Tochtergesellschaften, und Novartis zu den fünf weltweit führenden Organisationen gehören, die Patente veröffentlicht haben, in denen diese Ressource erwähnt wird.
Diese und andere langfristige Investitionen in die SIB stärken zusätzlich den Ruf der Schweiz für wissenschaftliche Exzellenz, Qualität und Stabilität. Sie machen das Land zu einem zuverlässigen Partner für grenzüberschreitende Kooperationen, bringen internationale Finanzmittel ins Land, tragen dazu bei, Talente anzuziehen und zu halten, und verschaffen unserem kleinen Land eine starke Stimme bei der Gestaltung der Dateninfrastruktur und Forschung in Europa und darüber hinaus – all dies kommt direkt der Widerstandsfähigkeit und dem Wohlstand der Schweiz zugute.
Das Schweizer Innovationsökosystem steht unter Druck
Es ist also klar, dass Dateninfrastruktur und Fachwissen nicht nur „nice to have“ sind, sondern für nationale Innovationsökosysteme unverzichtbar sind. Länder, die in dieses Ökosystem investieren, werden auf vielen Ebenen weiter prosperieren, auch wirtschaftlich. Diejenigen, die Wissenschaft und Innovation untergraben, riskieren, ins Hintertreffen zu geraten.
Genau diesem Risiko ist die Schweiz derzeit ausgesetzt.
Die Einschränkungen der Bundesmittel schränken die Schweizer Wissenschaft bereits ein; im Fall des SIB ist es die Fähigkeit, zusätzliche Datenbanken, Software-Tools und strategische Aktivitäten zu entwickeln, um Forschung, Innovation und Lösungen für globale Probleme weiter zu unterstützen. Unser Land ist auch von den massiven Kürzungen der US-Wissenschaftsmittel in diesem Jahr betroffen, die zusammen mit Forschungsprojekten anderer Schweizer Institutionen die für die globale Zusammenarbeit unverzichtbare Dateninfrastruktur gefährden, wie beispielsweise das von uns koordinierte internationale Pathogen Data Network und das bereits erwähnte UniProt.
Die im Entlastungsprogramm 27 vorgeschlagenen Kürzungen der Bundesmittel für Bildung, Forschung und Innovation (BFI) würden die Schweizer Wissenschaft und die langfristige Nachhaltigkeit der nationalen Dateninfrastruktur und des Fachwissens weiter gefährden – mit schädlichen Folgewirkungen für die Wettbewerbsfähigkeit, Souveränität und den Wohlstand der Schweiz.
Fragile Beziehungen zu Europa bedrohen die Souveränität der Schweiz
Ein Lichtblick ist die Wiederaufnahme der Schweiz in das EU-Forschungs- und Innovationsförderprogramm Horizon Europe nach den Verhandlungen zum bilateralen Abkommen III. Doch dieser Lichtblick ist nur ein schwacher Trost. Lehnen die Stimmberechtigten das Abkommen in einer Volksabstimmung ab, verliert unser Land erneut diese wichtige Finanzierungsquelle und damit auch Chancen, Talente anzuziehen und an europäischen Kooperationen teilzunehmen.
Einige argumentieren, dass engere Beziehungen zur EU die Souveränität der Schweiz gefährden. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Eine strategische Beteiligung an europäischen Rahmenwerken stärkt unsere Souveränität, da die Schweiz so internationale Politiken und Standards mitgestalten kann, die unsere wirtschaftliche und wissenschaftliche Zukunft beeinflussen, anstatt sich diesen von aussen unterzuordnen. Die enge Zusammenarbeit mit unseren engsten Verbündeten stärkt zudem den Handel, die Sicherheit und den Wissensaustausch der Schweiz, was unsere Unabhängigkeit festigt und nicht beeinträchtigt.
Wenn die Stimmberechtigten die Bilaterale III in einer Volksabstimmung ablehnen, verliert unser Land erneut die Fördermittel aus Horizon Europe sowie die Möglichkeiten, Talente anzuziehen und an europäischen Kooperationen teilzunehmen
Die Schweiz muss ihren Weg als Wissenschaftsführerin fortsetzen
Die Schweiz nimmt in globalen Rankings zu Innovation und Talent durchweg Spitzenplätze ein und gehört zu den drei wettbewerbsfähigsten Ländern weltweit. Um diese beneidenswerten Stärken zu erhalten und auszubauen, müssen wir die Führungsrolle des Landes in der Wissenschaft sichern – auch in den Bereichen Datenkompetenz und Infrastruktur. Die Bereitstellung dieser strategischen Datenressourcen durch die SIB und andere Akteure wird in Zeiten künstlicher Intelligenz und datengestützter Lösungen für Herausforderungen im Gesundheits- und Umweltbereich immer wichtiger.
Was können die Schweizer Akteure tun? Ich fordere
- alle politischen Parteien, die Mittel für die ERI zu erhöhen, einschließlich der Unterstützung für Dateninfrastrukturen, und die Ratifizierung des Bilateralen Abkommens III zu unterstützen;
- den Privatsektor, sich gegen Bedrohungen für die nationale Wissenschafts- und Dateninfrastruktur auszusprechen;
- akademische Institutionen, Datenkompetenz und -infrastruktur in ihre Forderungen nach einer nachhaltigen Wissenschaftsfinanzierung aufzunehmen;
- die Öffentlichkeit, politische Massnahmen und Entscheidungsträger zu unterstützen, die Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit als Grundlage für langfristiges Wohlergehen priorisieren.
Wir stehen an einem Scheideweg. Die Schweiz hat die Chance, ihren Weg als Wissenschaftsstandort entschlossen fortzusetzen. Diese Chance müssen wir nutzen.