«Wir verlieren ein paar Milliarden pro Jahr»

Big Data in der Medizin nützt Patienten und reduziert Kosten, sagt Gesundheitsexperte Felix Gutzwiller. Ein neues Gesetz soll helfen.

René Donzé 5 min
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«Der Datenfriedhof ist gross»: Sozial- und Präventivmediziner Felix Gutzwiller. (20. August 2019)

«Der Datenfriedhof ist gross»: Sozial- und Präventivmediziner Felix Gutzwiller. (20. August 2019)

Joël Hunn

NZZ am Sonntag: Müssen wir Menschen eigentlich alles über uns wissen, Herr Gutzwiller?

Felix Gutzwiller: Vielleicht nicht alles. Aber ich denke schon, dass mit mehr Wissen auch mehr Gutes getan werden kann – gerade in der Biologie und der Medizin: Denken Sie nur daran, wie viele Krankheiten wir heute bekämpfen können. Der Wunsch nach Erkenntnis ist eine Konstante seit der Aufklärung. Das hilft der Gesellschaft als Ganzes und dem Einzelnen zu einem besseren Leben.

Sie setzen sich als Präsident des Schweizerischen Instituts für Bioinformatik SIB dafür ein, dass all die Daten, die in der Medizin und der Biologie gesammelt werden, besser nutzbar gemacht werden. Warum?

Weil es hier ein riesiges Potenzial gibt. Stellen Sie sich nur einmal vor, dass ein einziger Patient auf einer Intensivstation pro Tag etwa 100 Gigabyte Daten erzeugt. Und in der Schweiz werden jährlich rund 80 000 Patienten auf Intensivstationen behandelt.

Ich habe nachgeschaut: 100 Gigabyte entsprechen etwa dem Streaming von 100 Filmen.

Das ist eine gute Übersetzung dieser Menge. Es wäre wichtig, dass man diese Daten nicht nur für die Überwachung des Patienten verwendet, sondern auch der Forschung und Innovation verfügbar macht. Das geht nur, wenn die Informationen harmonisiert werden. Die Schweiz wäre mittlerweile gut aufgestellt, um dies zu tun, dank Infrastrukturen wie jener des SIB.

Was ist der Nutzen, wenn diese Daten besser verfügbar sind?

Bessere Forschung, tiefere Kosten, bessere Entscheidungen. Das haben wir in der Covid-Pandemie gut gesehen. Zuerst tappte man ziemlich im Dunkeln, doch dann wurde das Datenmanagement verbessert, und das Bild der Pandemie wurde differenzierter. Das SIB etwa hat eine Plattform geschaffen, die dem Bund einen Überblick über die im Umlauf befindlichen Varianten verschafft. So war die Schweiz eines der ersten Länder, die ein Monitoring durchführen konnten. Wir wurden zum viertgrössten Lieferanten von Varianten-Sequenzierungen weltweit.

Haben Sie ein Faxgerät im Büro?

Nein. Schon lange nicht mehr.

Es ist ein Symbol für den Zustand im Gesundheitswesen. Zu Beginn der Pandemie mussten die Ärzte Formulare nach Bern faxen. Braucht es Krisen, damit sich die Schweiz bewegt?

Corona hat tatsächlich sehr vieles beschleunigt. Man hat ja schon vorher aufgrund von Auswertungen der Sars- und Mers-Epidemie gewusst, dass es in der Schweiz Probleme geben könnte, doch geschehen ist nichts. Die Befürchtung ist nun da, dass mit dem Ende der Corona-Pandemie vieles wieder einschläft.

Wie steht es denn generell um die Datennutzung im Schweizer Gesundheitswesen?

Aus meiner Sicht als Arzt sind wir im klinischen Bereich, in Spitälern und Arztpraxen, noch weit von einer effizienten Datennutzung entfernt. Das beginnt schon bei der schleppenden Einführung des elektronischen Patientendossiers. Der Datenfriedhof ist gross.

Wie gross? Wie hoch ist der Anteil der ungenutzten Daten?

Da will ich mich nicht auf eine Hypothese hinauslassen.

Aber es wird nur ein Bruchteil des Potenzials ausgeschöpft.

Ja, weil die meisten Informationen nicht kompatibel sind mit anderen Systemen, können sie nicht nutzbar gemacht werden. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass nur Daten verwendet werden dürfen, bei denen die Patienten eingewilligt haben, sie mit der Forschung zu teilen.

Hat die Politik geschlafen?

Das Thema ist in der Politik sehr spät angekommen, wenn überhaupt. Es stand einfach nicht oben auf der Prioritätenliste, bis Covid-19 kam. Darum bin ich umso glücklicher, dass jetzt Bewegung in die Diskussion kommt.

Sie meinen damit das Rahmengesetz für die Sekundärnutzung von Daten, das demnächst im Ständerat beraten wird. Wird das die Situation verbessern?

Das Gesetz ist sehr wichtig. Es definiert den Rahmen dafür, wie all die Daten, die wir sammeln, möglichst gut genutzt werden können. Es definiert Standards, regelt den Datenschutz und klärt auch allfällige Subventionierungen. Das gilt auch für andere Bereiche, wie etwa die Landwirtschaft oder den Umweltschutz. Heute holen wir da viel zu wenig heraus. Das ist eine riesige Geldverschwendung.

Wie viel Geld geht verloren?

Das ist schwierig zu sagen. Aber ich denke, der Effizienzverlust beläuft sich im Gesundheitsbereich in der Grössenordnung von zehn bis zwölf Prozent der Gesamtkosten.

Das ist ein grosser Betrag.

Wir verlieren ein paar Milliarden Franken pro Jahr, davon bin ich überzeugt.

Warum tut sich die Schweiz so schwer mit diesem Thema? Das Land ist reich, der Bildungsstand der Bevölkerung hoch.

Die Dezentralisierung ist sicher ein Problem. So hat jedes Spital sein eigenes System, und die Koordination der Akteure ist zeitaufwendig. Hinzu kommt die Bedeutung der Datensicherheit, die eine der Säulen für das Vertrauen der Bevölkerung ist.

Die Skepsis ist berechtigt. Kürzlich wurden in der Schweiz Datenlecks im Organspenderegister entdeckt. Nun wurde es aufgelöst.

Ja, das ist sehr unschön – vor allem, weil das Register eine gute Sache war. Die Politik ist dafür verantwortlich, Mittel bereitzustellen, damit die besten Sicherheitstechniken für nationale Projekte eingesetzt werden.

Regelmässig werden vermeintlich sichere Daten geleakt. Der grösste Sicherheitsfaktor ist der Mensch, der die Maschine bedient.

Das ist so. Doch in der Schweiz wird der Datenschutz sehr ernst genommen. Natürlich kann es zu Pannen und Lecks kommen. Doch Gesundheitsdaten für die Forschung sind ohnehin komplett de-identifiziert, das heisst, sie können von den Forschenden gar nicht auf einzelne Personen zurückgeführt werden.

Die andere Gefahr ist, dass Forschungs- oder Personendaten in die Hände anderer Staaten gelangen und dort missbraucht werden.

Umso wichtiger sind klare rechtliche Rahmenbedingungen und Sicherheitsstandards, wie sie nun festgelegt werden. Allerdings ist mir bis jetzt noch kein einziger solcher Fall bekannt. Ich denke, das grössere Risiko liegt im Bereich Werkspionage bei privaten Firmen.

Wenn es um Daten geht, ist oft vom personalisierten Gesundheitswesen die Rede. Was muss ich mir darunter vorstellen?

Vereinfacht gesagt, geht es darum, dass die Medizin nicht mehr generelle Therapien für eine Krankheit entwickelt, sondern für jede Person eine massgeschneiderte Diagnose stellt und die genau passende Behandlung durchführt. Je mehr man über einen Patienten weiss, desto personalisierter wird die Medizin. Das kann bis zur Entwicklung individueller Methoden mittels Gentechnik führen.

Das setzt aber sehr viel gesammeltes Wissen über Patienten voraus.

Das ist so.

Am Schluss kennt mich der Computer besser als ich selber. Schauderhaft, dieser Gedanke.

Ich weiss nicht, ob man bei einer Datensammlung von Wissen sprechen kann. Denn Wissen, im Sinne von Verstehen, entsteht erst durch Denken. Ein Computer kann nicht denken, selbst künstliche Intelligenz ist programmiert. Wissen nach meinem Verständnis kann nur der Mensch.

Felix Gutzwiller

Der ehemalige FDP-Ständerat war lange Jahre Leiter des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin an der Uni Zürich. Er ist bis Ende 2022 Stiftungsratsvorsitzender des Schweizerischen Instituts für Bioinformatik. Die Nonprofitorganisation unterstützt die akademische, klinische und industrielle Forschung mit Dienstleistungen, Datenbanken und Software.

NZZ am Sonntag, Schweiz